Pfeil nach oben

2023-02-22 18:32:49 By : Mr. Sun Sunny

Melden Sie sich jetzt mit Ihrem bestehenden Account an oder testen Sie unser digitales Abo mit Zugang zu allen Artikeln.

Mitten im Gespräch eilt Franziska Giffey in drei, vier schnellen Schritten von ihrer Sitzgruppe im Roten Rathaus zu ihrem Schreibtisch. "Wollnse mal kucken?" Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin zeigt auf ein abschließbares Geheimfach. Ihr Amtsvorgänger und Parteifreund Michael Müller hat es ihr seinerzeit präsentiert, bei einer Dienstübergabe, die man sich wohl sehr knapp vorstellen muss. Man hatte sich nicht viel zu sagen. Berlin macht weiter, die SPD macht weiter, was soll sein. Das Fach war leer.

21 Jahre lang hat Giffeys Partei, die SPD, die deutsche Bundeshauptstadt (mit)regiert, die in München und anderswo derzeit nur noch failed state genannt wird. Verschlampte Wahlen, brennende Rettungsfahrzeuge, eine überforderte Verwaltung – ist Berlin unregierbar? Oder ist all das, wie Franziska Giffey meint, nichts als ein verlogenes Klischee: "Alle lästern über die Stadt. Aber alle wollen hierher. Und wehe, es gibt keine Karten mehr zur Fashion Week."

Am kommenden Sonntag, wenn die Berliner nach nur 16 Monaten wieder an die Urnen müssen, weil die reguläre Wahl von Gerichten für ungültig erklärt worden ist, könnte es mit der SPD-Dauerregentschaft vorbei sein. Vielleicht war einmal zu oft niemand für einen Berliner Schlamassel verantwortlich. Vielleicht hat sich einmal zu oft niemand entschuldigt. "Was würde denn besser, wenn ich zurückträte?", hatte der damals für die Wahl zuständige SPD-Senator Andreas Geisel gefragt.

Zum ersten Mal seit Menschengedenken liegt nun ausgerechnet die Berliner CDU in Umfragen mit Abstand vorn. Die CDU gilt in der Hauptstadt als Partei jener, die außerhalb des S-Bahn-Rings wohnen, der die Innenstadt umschließt: der Schrebergärtner, Autofahrerinnen, Liebhaber der Currywurst und des robusten Polizeieinsatzes. Die Partei derer, die ganz, ganz gewiss gegen Enteignungen sind, wie sie auf der Linken als Heilmittel gegen die Wohnungsnot gefordert werden. Der CDU-Spitzenkandidat, Kai Wegner, 50, gelernter Versicherungskaufmann aus Spandau, stemmte sich im Herbst erfolgreich gegen den Versuch von Parteichef Friedrich Merz, ihn gegen den eloquenteren Jens Spahn auszuwechseln. Beim Gespräch im Preußischen Landtag versichert er, den "sehr konservativen Kai Wegner von früher mag ich heute gar nicht mehr so". Inzwischen habe er auch einen guten Draht zur queeren Community. Da sei eine Lernkurve gewesen. In einer Umfrage liegt Wegner sogar im direkten Vergleich der Spitzenkandidaten vorn; sonst ist das meist Giffey , die man sich aber ohne SPD wünscht. Deshalb gibt es keinen politischen Satz, den man in Berlin derzeit häufiger hört als diesen: "Wen um alles in der Welt soll ich denn jetzt wählen?"

Diese Ratlosigkeit hat womöglich einen tieferen Grund. Politisch ist Berlin nämlich das, was Wahlforscher "strukturell links" nennen. Das drückt sich zum einen in der Arithmetik aus. So könnte es gut sein, dass zwar Wechselstimmung herrscht und die CDU stärkste Partei wird – es aber mangels Koalitionsoptionen am Ende doch bei einer Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken bleibt, wenn auch womöglich in veränderten Kräfteverhältnissen. Giffey hat zwar Offenheit für eine Deutschland-Koalition aus CDU, SPD und FDP erkennen lassen. Aber ob ihr sehr linker Landesverband ihr dorthin folgen würde, ist fraglich.

Zum andern ist das "strukturell Linke" schon lange Teil des Berliner Mindsets, der Gemütslage einer Stadt, in die man während der deutschen Teilung aus dem Westen zog, um dem Wehrdienst zu entgehen. Die Stadt verlangt nicht viel, hier kann man sich auch im Scheitern wohlfühlen. Die Regierende Bürgermeisterin fand sich nach einer Plagiatsaffäre nicht mehr geeignet für das Bundesfamilienministerium – für Berlin hat es immer noch gereicht. Wo sonst in der Bundesrepublik würden 59 Prozent für die Enteignung von Wohneigentum stimmen? Die Linke in Berlin hält in dieser Woche sogar ein "Tribunal" gegen das Immobilien-Unternehmen Signa der Familie Benko ab und findet, es dürfe grundsätzlich "kein Baurecht für Gentrifizierungsprojekte" mehr geben. In keiner anderen deutschen Großstadt würde ein Areal wie das riesige Tempelhofer Feld, früher ein Exerzierplatz, nach einem Volksentscheid komplett unbebaut bleiben. Auf 300 Hektar, also etwa 450 Fußballfeldern, Drachen fliegen lassen, skaten, chillen – aber nix mit Neubau, trotz etwa 300.000 fehlender Wohnungen.

Ist Berlin also instinktiv links, antiautoritär und deshalb unregierbar? Auf dem Weg zu Klaus Lederer, 48, Spitzenkandidat der Linken, Kultursenator und hochpopulär, ins Karl-Liebknecht-Haus nahe dem Alexanderplatz passiert man vor der Volksbühne goldglänzende Messingstreifen, auf denen quer über den Bürgersteig Rosa-Luxemburg-Zitate eingraviert sind. Eine vergleichbare Unbefangenheit kann man sich, nebenbei bemerkt, mit Ernst-Jünger-Worten kaum vorstellen.

"Alle lästern, aber alle wollen hierher"

Dabei muss ich spontan an folgenden Songtext aus "Brandenburg" von Rainald Grebe denken:

"Berlin, Haleluja Berlin Haleluja berlin Alle wollen dahin Deshalb will ich das auch"

Ich will da nicht hin.Musste mal in Berlin leben. Fand die Stadt einfach nur widerlich.

"Inzwischen habe er auch einen guten Draht zur queeren Community. Da sei eine Lernkurve gewesen."

Weswegen Wegner der "queeren Community" (was immer er glaubt, was das für eine verschworene Gemeinschaft sei) auf aktuellen Wahlplakaten "Toleranz" verspricht. Nichts anderes steht da, nur "Toleranz" - und natürlich "CDU".

Nun ist Toleranz allerdings etwas, das der Staat jedem zu garantieren hat, es ist ein Grundrecht. Schön, dass wir erfahren, dass für Wegners CDU die Grundrechte nun auch für das queere Volk gelten dürfen.

Naja, wie schaut die Definition denn aus

to·le·rie·ren /toleˈriːrən,toleriéren/ schwaches Verb 1. BILDUNGSSPRACHLICH dulden, zulassen, gelten lassen (obwohl es nicht den eigenen Vorstellungen o. Ä. entspricht) "jemanden tolerieren"

Toleranz kann man auch einen schreiende Baby im Flugzeug entgegenbringen, um was es gehen sollte ist Akzeptanz

Die Stadt verlangt nicht viel, hier kann man sich auch im Scheitern wohlfühlen...... Doch sie verlangt einiges, denn bei 20 Euronen Miete pro Quadratmeter bei Neuvermietung ist Scheitern keine Option.

"[...] die erneute Teilsperrung der Friedrichstraße, auf der das Leben inzwischen fast komplett zum Erliegen gekommen ist [...]" Diejenigen, die ich kenne, die dort oder in der Nähe wohnen, sagen, dass die Straße durch die Sperrung viel belebter ist. Außer natürlich man misst Belebtheit anhand der SUVs, die da durchrasen.

Belebt, weil da Menschen auf der Straße laufen. Belebt, weil man flanieren und einkaufen kann? Eher nicht.

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.