Jungfrau Zeitung - Mit Polo Hofer Bierdosen entsorgen

2023-02-22 18:44:48 By : Mr. Vic lin

Adrett gekleidete Leute huschen über den Bahnhofplatz Bern. Unzähligen Fahrzeuge rauschen wie ein stetig strömender Fluss an ihnen vorbei; unaufhaltsam, die Menschen rennen um ihr Leben. Damals, im Jahr 1987, hatten Automobile Vortritt, ihnen gehörten die Strassen rund um den Bahnhof. Fussgänger waren ungern gesehen, diese huschten trotz fehlender Zebrastreifen flink zwischen den Blechgeschossen hindurch. Mitten in diesem geschäftigen Betondschungel fand sich «Role» wieder, der in Köniz geboren wurde, lange Zeit im Berner Oberland arbeitete und schliesslich seine Stelle als Taxifahrer in der Hauptstadt antrat. «Es war eine vollkommen andere Welt.»

Der Beruf des Taxichauffeurs war seinerzeit hoch angesehen. «Die Wertschätzung war gross – genau wie der Ehrgeiz, einen guten Job zu machen», erklärt Thomke. Es war eine Zeit, in der Fahrzeuge keine Klimaanlagen, geschweige denn Navigationsgeräte besassen. «Wett Gäud hesch wöue verdiene, de hesch die Stadt müesse im Gring ha.» Ein Taxifahrer Ende der 1980er-Jahre kann getrost als Vorläufer von Google bezeichnet werden. Nicht nur kannte dieser sehr viele Orte, Strassen, Etablissements und wusste über so einiges Bescheid, er war es auch, der durch sein Wissen den potenziellen Stau umfahren konnte. «Bei Köniz rauschte ich teilweise durch das City-West-Parking. Ganz einfach, weil das schneller war, als ewig an einer Ampel warten zu müssen.» Doch es war auch Vorsicht geboten.

Schnell einmal habe man die Gewerbepolizei am Hals gehabt, erklärt «Role» schmunzelnd. «Und wenn sie dann deinen Fahrtenschreiber kontrolliert haben, musstest du erklären, warum die teilweise 70 Kilometer pro Stunde gefahren bist, obwohl du nur in der Innenstadt unterwegs warst.» Doch auch auf die Sauberkeit der Fahrzeuge musste penibel geachtet werden, und das in einer Zeit, als Rauchen während der Fahrt noch ausdrücklich erlaubt war. Mit einem kleinen Staubsauger, einem Duft- und einem sogenannten Kotz-Spray bewaffnet, trat Thomke jeweils seine Schichten an. «Letzteres wurde auf die betroffene Stelle aufgetragen, um vor allem den üblen Geruch so gut wie möglich zu neutralisieren.» Gegen andere «Unannehmlichkeiten» hingegen gab es kein probates Mittel.

Was erschwerend hinzukam: Tankstellenshops, wie wir sie heute kennen, die nicht nur am Abend geöffnet, sondern auch unzählige Waren im Angebot haben, existierten nicht. «Einzig das Grauholz bot die Möglichkeit, das eine oder andere zu besorgen.» So kam es auch immer wieder vor, dass bei der bekannten Berner Raststätte an einem Sonntagmorgen eine Flasche Wein gekauft werden musste, um diese irgendwo in die Innenstadt zu liefern. Doch auch andere Substanzen wurden mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit bei gewissen Fahrgästen von «Role» mittransportiert. «Es gab da einen Mann, der beim Kocherpark eingestiegen ist.» Von dem damals für die offene Drogenszene bekannten Treffpunkt liess sich der Mann nach Lausanne chauffieren. «Er bezahlte die Fahrt ausschliesslich mit Zehnernoten.» Doch auch die Politiker begaben sich in so manch schummrige Ecke.

Glatteis im Sommer bedeutete, dass sich dort ein Radar befand

Während der Session in Bundesbern habe die Weissensteinstrasse Hochkonjunktur erlebt, erzählt «Role». Diese sei für ihre Rotlichtaktivitäten bekannt gewesen. «Es war in gewisser Weise eine Grauzone. Wir durften uns nicht in Hehlerei verwickeln lassen.» Die Fahrten an die besagte Weissensteinstrasse kam einem Besuch im Rotlichtmilieu gleich. «Daher fand sich stets eine Formulierung, die den Gast und auch mich nicht in Verlegenheit brachte.»

Gewisse Formulierungen oder auch Ausdrücke waren im Taxigewerbe weit verbreitet. «Wenn es im Sommer beispielsweise hiess, dass es in Muri Glatteis habe, wusste man, dass sich dort ein Radar befand.» Im übertragenen Sinne aufs Glatteis gewagt habe sich ein Mann, der kurz vor dem Ja-Wort kehrtgemacht habe.

«Es war ein herrlicher Frühlingstag, als der Herr in seinem feinen Zwirn in mein Taxi stieg.» Bereits während der Fahrt Richtung Kirche sei ihm aufgefallen, dass der Fahrgast übermässig transpiriert und gezittert habe. «Er war fürchterlich hibbelig.» An der letzten Kreuzung vor dem Gotteshaus rief der künftige Bräutigam «Role» plötzlich zu, er solle wenden. «Er meinte nur: 'Ich geh' da nicht hin!'» Thomke war hin- und hergerissen. Einerseits wollte er dem Mann ins Gewissen reden, auf der anderen Seite habe er sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen wollen. «Schliesslich fuhren wir zu einem Landgasthaus. Dort setzte sich der Herr im Anzug an die Bar und bestellte sich eine Flasche Whiskey.» Wie die Geschichte ausgegangen ist, das wisse er bis heute nicht. «So ging es häufig. Plötzlich war man mitten in einer völlig absurden Szenerie. Nur um dann wenig später wieder im Wagen zu sitzen und sich zu fragen: Was war denn das jetzt?» Doch es gab auch viele schöne Begegnungen, wie jene mit dem Oberländer Musiker Polo Hofer.

Polo und ich schleppten mit Leergut befüllte Bananenkisten zu meinem Wagen

«Viele wollten den Auftrag nicht annehmen.» Polo rief immer mal wieder in der Taxi-Zentrale an, um sich ein Gefährt für seine Leergutentsorgung zu bestellen. «Ab einem gewissen Zeitpunkt verlangte er dann stets mich als Fahrer.» Die Aufgabe war simpel: zu Polos Wohnung beim Eigerplatz, an der Mattenhofstrasse, fahren, seine leeren Flaschen und Bierdosen einsammeln und diese gemeinsam mit ihm entsorgen.

«Da standen wir also in seiner Küche und schleppten mit Leergut befüllte Bananenkisten zu meinem Wagen.» Der Musiker habe stets selbst angepackt. «Er war ein wirklich netter Mensch, der auch immer vieles zu erzählen wusste.» Bei einer dieser Fahrten sang Polo plötzlich «Lääri Dose», statt «Alperose». Ob dieser versteckte Song damals in «Roles»-Taxi entstanden ist, vermag dieser nicht zu beurteilen. Was er hingegen weiss, es gab auch Menschen, die weniger nett waren und die er auch nicht mehr fahren durfte.

Eine «Persona non grata» war eine grüne Berner Politikerin. Am Morgen habe er im Radio gehört, wie sie für den öffentlichen Verkehr und das Verbot von Fahrzeugen in Berns Innenstadt geweibelt habe. «Wenige Stunden später stieg sie zu mir ins Taxi. Obwohl sich nicht weit von ihrer Wohnung eine Tramhaltestelle befand.» Thomke fuhr die Dame zu besagter Haltestelle und machte halt. «'Bitte aussteigen', sagte ich zu ihr.» Trotz Widerstand seitens der Politikerin liess sich der Taxichauffeur nicht beirren. «Wer schon solch grosse Töne spuckt, der sollte selbst ein gutes Vorbild sein.»

Unvergessen sei auch die Fahrt eines Schweizer Mannes, der von seiner Hochzeitsreise erzählte. Der Mann fuhr mit seiner Frau nach Kenia, um dort die Flitterwochen zu geniessen. Zur Freude des Paares kam wenig später heraus, dass die Frau mit Zwillingen schwanger war. «Ungefähr neun Monate später wurden zwei dunkelhäutige Kinder geboren. Sie waren gesund und munter.» Thomke hält kurz inne, seine Mundwinkel verziehen sich zu einem schmalen Lächeln. «Ihr Mann war weiss.»